christianeum - nazis


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Abgeschickt von hermann am 03 Mai, 2001 um 06:16:13:

Walter und Ludwig Lichtheim:
Das Schicksal zweier jüdischer Schüler des Christianeums in der NS-Zeit

Am 18. Oktober 1965 erschien der australische Staatsbürger Louis S. Layton aus Melbourne im Sekretariat der Schule. Er gab sich als der ehemalige Christianeer Ludwig Lichtheim zu erkennen, der in einer Erbschaftsangelegenheit nach Hamburg gekommen war, die seinen älteren Bruder Walter betraf. Bei dieser Gelegenbeit erfuhr das Clsristianeum nach mehr als zweiJahrzehnten, daß Walter Lichtheim, der die Schule von Ostern 1930 bis Ostern 1936 bcsucht hatte, ein Opfer der Massenvernichtungslager der Nationalsozialisten geworden ist. Walter und Ludwig Lichtheim waren Juden.
Der Vater der beiden Brüder, Georg Lichtheim, hatte bis zu seiner Entlassung 1933 die Altonaer Gas- und Wasserwerke geleitet.
Was es für seine Söhne bedeutet haben mochte, in einem zunehmend antisemitisch aufgeheizten Umfeld aufzuwachsen, wird aus einem Vorfall deutlich, der sich am 25. Juni1932 in der Klasse Walters ereignete und den sein Klassenlehrer Hermann Bangen protokolliert hat. Während einer Musikstunde hatten Mitschüler einen Zettel verfaßt und herumgereicht, der außer Hakenkreuzen eine Reihe von gekritzelten Parolen aufwies wie ,,und wenn das Judenblut vom Messer spritzt, dann geht's uns noch gut" und ,,Deutschland erwache, Juda verrecke".
Bangens Kollege Dr. Trog berichtete über diesen Vorfall:
Am Sonnabend, dem 25. Juni, hörte ich nach dem Verlassen des Christianeums gegen 12.45 Uhr lautes Rufen und Schreien, das von der Königstraße zur Hohenschulstraße herüberdrang. Beim Einbiegen in die Königstraße bemerkte ich in einer Entfernung von etwa 150 Schritt eine größere Schar von Schülern, die unter lautem, Geschrei die Königstraße hinaufstürmte. Nach kurzer Zeit hörte ich zwei Frauen sich lebhaft und entrüstet darüber unterhalten, daß ein kleiner Schüler von vielen anderen unter den Rufen "Juda verrecke" verfolgt und geschlagen sei. Dasselbe berichtete mir wenige Schritte darauf ein Passant.
In einer anschließenden Disziplinarkonferenz unter Leitung des Schulleiters Dr. Grosse kam zur Sprache, daß die Lichtheims schon häufiger antisemitischen Anwürfen ausgesetzt gewesen seien, so zum Beispiel, daß ihr Vater als Jude das Altonaer Trinkwasser vergifte. Das Protokoll dieser Konferenz vermerkt auch die Äußerung eines jungen Lehrers, die Juden seien doch nur Gäste im Lande.
Walter Lichtheim verließ das Christianeum 1936, um eine kaufmännische Lehre anzutreten. Sein Bruder Ludwig, genannt ,,Lutz", blieb als schließlich letzter Schüler jüdischen Glaubens am Christianeum, das in früheren Zeiten einmal mehr jüdische als katholische Schüler verzeichnete. Wenige Tage nach der ,,Reichskristallnacht« wurden die letzten jüdischen Schüler von den Staatlichen Schulen des Deutschen Reiches verwiesen. Der Unterprimaner Ludwig Lichtheim mußte das Christianeum am 18. November 1938 verlassen; als Grund vermerkt das Schülerhauptverzeichnis ,,weil jüd. Bekenntnisses"
Die Erwähnung dieser Vorgänge in der Festschrift zum Schuljubiläum veranlaßte Herrn Walter Flocken, einen ehemaligen Mitbewohner Lichtheims, dem Christianeum seine Erinnerungen aufzuschreiben. Es ist das erste authentische Zeugnis von dem Leidensweg der Familie Lichtheim, der mit dem Jahre 1933 begann:
Anfang 1933 bezog unsere Familie in Altona in der Palmaille 25 die Wohnung der 3. Etage. Unter uns wohnte die Familie Lichtheim. Herr Lichtheim war damals Direktor des Altonaer Wasserwerks. Seine Frau war ausgebildete Pianistin. Ihre Söhne hießen Walter und Lutz, vermutlich Jahrgang 1920 und 22. Water spielte Geige, Lutz Flöte. So wurde im Hause Lichtheim viel musiziert. Mit Freunden fanden dort regelmäßig Kammermusiken stett. Ich entsinne mich der gegenseitigen Vorstellungsbesuche nach unserem Einzug. Mein Bruder (Jahrgang 22) und ich (Jahrgang 26) spielten anfangs gelegentlich auf der Straße mit den Lichtheimsöhnen, bis unser Vater eines Tages meinte, es sei besser, wir würden diese Beziehung abbrechen. Über Gründe wurde in unserer Familie nicht weiter gesprochen.
Im Sommer 1939 kam Frau Lichtheim mit Lutz zu uns in die Wohnung, damit sicch ihr Sohn von uns verbschieden könne. Es hatte sich eine Gelegenheit für ihn ergeben, mit einem jüdischen Kindertransport nach England ausreiscn zu können. Auf das Bedauern meiner Mutter, daß Frau Lichtheim ihren Sohn so früh allein in die Welt ziehen lassen müsse, erwiderte Frau Lichtheim, daß sie im Gegenteil sehr froh sei, daß er Deutschland verlassen könne.
Herr Lichtheim starb in den allerersten Kriegstagen. Gesprochen wurde von Herzschlag. Man hatte ihn bald naclh der Machtübernahme zunächst fristlos und ohne Bezüge entlassen. Soviel ich mitbekam, konnte er aber damals noch in einem Prozeß gegen die Stadt Altona eine Pensionszahlung durchsetzen. Nach seinem Tode nahm Frau Lichtheim eine Schwester ihres Mannes bei sich auf. Die Bombennächte des Krieges brachten zwangsläufig wieder engere Kontakte durch die zahlreichen Aufenthalte im gemeinsamen Luftschutzkeller. Dabei ergab sich die makaber-groteske Situation, daß mein Vater gelegentlich in Parteiuniform im Keller den beiden jüdischen Damen mit Davidsstern gegenüber sitzen mußte. Trotzdem fand eine sozusagen ,,normale" Unterhaltung statt. So berichtete Frau Lichtheim von ihrem Lutz, der inzwischen in England interniert und in ein Lager in Australien geschickt worden war. Uber Freunde in den USA und der Schweiz erhielt sie gelegentlich Post von ihm. Einmal zeigte uns Frau Lichtheim Fotos von ihrem Bruder, der im 1. Weltkriege Marineoffizier war und mit dem Eisernen Kreuz 1. Klasse ausgezeichnet worden war. Dabei betonte sie, daß sie sich immer als gute deutsche Patrioten gefühlt hätten. Der Mißlichkeit der Situation entzogen sich Lichtheims später, indem sie sich ihren eigenen Keller als Schutzraum einrichteten
Es muß im Herbst 1942 gewesen sein, als sich im Hause und der Nachbarschaft die Nachricht verbreitete, daß Lichtheims einen "Gestellungsbefehl" erhalten hätten. Schon am folgenden Morgen sollten sie sich mit Gepäck soviel sie tragen könnten auf der Moorweide einfinden. Den ganzen Tag war ein ständiges Kommen und Gehen von jüdischen Freunden Lichtheims.
Am Abend - mein Vater war zu einer Parteiversammlung - kamen tatsächlich die beiden Damen und Walter zu uns herauf. Ich sehe sie noch bei uns im Wohnzimmer sitzen, wie Frau Lichtheim meiner Mutter, meiner Schwester und mir, ich saß auf dem Klavierhocker und war gerade beim Klavierspielen unterbrochen worden - verkündete: ,»Wir müssen morgen das Haus verlassen. Wir wissen, was uns bevorsteht. Es geschieht zur Zeit in Deutschland so ungeheures Unrecht, daß Sie es mir nicht glauben würden, wenn wir es Ihnen sagen würden. \Vir vertrauen auf unseren Gott. Er wird dies Unrecht nicht ungestraft lassen. Es wird ein furchtbares Strafgericht über Deutschland hereinbrechen. Da Sie uns gute Nachbarn (!) waren, wollten wir uns von Ihnen verabschieden und Ihnen wünschen, daß Sie persönlich heil diesen Krieg überstehen." Dann erfolgte ein stummer Abschied. Wir waren wie benommen. Aber ich kann mich nicht daran erinnern, daß es daraufhin eine intensivere Aussprache in unserer Familie über dies Ereignis gegeben hätte. Wir beruhigten uns mit der auch in der Nachbarschaft üblichen Parole, die Juden würden in osteuropäische Ghettos umgesiedelt. Als äußersten Sadismus bürokratischer Pedanterie und Scheinkorrektheit empfand ich die auferlegte Verpflichtung, daß Lichtheims an dem einen noch verbleibenden Tag noch ein Inventar ihres gesamten Haushaltes aufzustellen hatten. Von einem Gerichtsvollzieher wurde die Wohnung dann amtlich versiegelt. lch selbst war an diesem Vormittag in der Schule. Ich wüßte nicht, daß ich meinen Klassenkameraden davon erzählt hätte. meine Mutter berichtete mir, daß Lichtheims gegen 10 Uhr das Haus verlassen hätten. Zuvor hätte sie aus der Lichtheimschen Wohnung noch geistlichen Gesang vom Harinonium begleitet gehört.
Es dauerte wohl etwa 2-3 Wochen, bis die Wohnung geräumt wurde. Zufällig stieß ich bei der Zeitungslektüre wenige Tage darauf auf die Zeitungsannonce eines Auktionshauses am Valentinskamp (vom Gänsemarkt aus einige Häuser hinter dem damaligen UFA-Palast) mit dem Hinweis: Versteigerung Haushalt L. Ich konnte es einrichten - wegen der zahlreichen Fliegeralarme kam es zu Unregelmäßigkeiten im Schulunterricht - zu dem angegebenen Termin das Versteigerungslokal aufzusuchen. Meine Vermutung bestätigte sich:
Es handelte sich tatsächlich um den Lichtheimschen Haushalt.
Werner Flocken hat im letzten Jahr auch versucht, Aufschluß über das weitere Schicksal Ludwig Lichtheims zu gewinnen. Er setzte sich mit der uns bekannten letzten Beschäftigungsstelle Louis Laytons in Verbindung und stieß dabei auf einen Freund Ludwigs, den es gleichfalls als jungen jüdischen Emigranten nach Australien verschlagen hatte. Er berichtet:
Sie wissen wahrscheinlich, daß Lutz im Jahre 1978 gestorben ist. Er wurde in einem Krankenhaus in Melbourne wegen einer bedrohlichen Herzkrankheit aufgenommen, und starb plötzlich über Nacht ein paar Tage später.
Ich weiß nicht, wie weit Sie mit seiner Lebensgeschichte bekannt sind. Er kam mit einem Kindertransport im Jahre 1938 oder anfangs 1939 nach England. Dort wurde er am 16. Mai 1940 als »feindlicher Ausländer" interniert (deutscher Staatsbürger - obwohl von Hitler als Jude ausgebürgert; jedoch die Ausbürgerung war von der englischen Regierung nicht anerkannt worden!). Ein paar Wochen später meldete er sich freiwillig zum Abtransport nach Kanada, wo eine größere Anzahl Internierte den Krieg verbringen sollten. Es gab aber zu viele Freiwillige, und er kam nicht mit - zum Glück - denn dieser Transport war auf dem Schiff »Arandorra Star«, das auf dem Atlantik torpediert und mit ungefähr 90% der Internierten versenkt wurde. Das blieb aber ein Kriegsgeheimnis bis viel später. Er meldete sich zu einem zweiten Transport ein paar Wochen später. Diesmal wurden die Freiwilligen in den Hafen von Liverpool gebracht, da es ihrer aber zuviele waren, wurden von den ungefähr 3000 Mann 200 ausgezählt und wieder zurückgeschickt. Sowohl er als ich waren unter den 200, und dort lernte ich ihn kennen.Es wurden wohl fast alle in England befindlichen Ausländer mit deutscher (oder ehemaliger deutscher) Staatsangehörigkeit interniert; jedoch ~u der Zeit waren 90% von denen jüdische oder politische Flüchtlinge von den Nazis.
Anfang oder Mitte Juli meldeten wir uns zum nächsten Transport nach Kanada (wir hatten in England keine Angehörigen, und die englische Internierung war sehr unangenehm). Diesmal waren wir »erfolgreich", d.h. wir gelangten auf das berüchtigte »Höllenschiff" Dunera. Jedoch diese Dunera ging nicht nach Kanada (wie sich erst nach fast zwei Wochen herausstellte), sondern nach Australien! Dort kamen wir (über 2500 Mann) Anfang September 1940 an und blieben mehrere Monate in einem Lager am Rande der Wüste, bis wir in ein besseres Klima gebracht wurden.
Kurz nach der Ankunft in der Wüste erhielten wir Nachricht, daß die englische Regierung uns nicht mehr als für gefährliche Nazis ansah und daß wir uns nunmehr als freie Menschen betrachten können. Die australische Regierung jedoch bestand darauf, daß Einwanderung nach Australien für die Kriegsdauer gesperrt sei. Wir könnten frei sein, wenn wir Australien verließen - aber praktisch gab es dafür und zu der Zeit keine Möglichkeit. Die Möglichkeit kam erst ein Jahr später, als die englische Regierung einen höheren Beamten nach Australien schickte, um die Leute zurückkommen zu lassen, die zurückwollten.Kabinenraum war gelegentlich in Frachtschiffen zu haben (Passagierschiffe fuhren nicht während des Krieges, und Flüge gab es auf so weite Strecken noch nicht), und bevorzugt wurden zunächst Väter mit jungen Familien in England, Leute, die durch fachtechnische Kenntnisse für die Kriegsführung wichtig waren, und diejenigen jungen und gesunden Leute, die in die englische Armee wollten. Keines davon traf auf Lutz und mich zu, und so wären wir noch lange hinter Stacheldraht geblieben, wenn die Japaner nicht schließlich bis nach Neu-Guinea vorgedrungen wären und sie den Australiern nicht mit der Angst zu tun gemacht hätten.
So konnten wir uns dann Anfang 1942 für die australische Armee melden, wo wir Schiffe und Lastwagen ein- und ausladen sollten. Und das taten wir dann auch. Lutz blieb noch bis zum Kriegsende 1945 in der Armee.
Noch während der Internierung erhielt Lutz durch Kurse, die von Mit-Internierten geleitet wurden (man hatte nicht viel anderes zu tun!), das Abitur. Nach seiner Armeezeit wurde er, nun von der Regierung genau wie regelmäßige Soldaten zu diesem Zweck unterstützt, an der Universität von Melbourne zum Studium zugelassen und wurde dann drei oder vier Jahre später ,,Bachelor of Science (Engineering)" - d. h. er wurde mechanischer Ingenieur.
Er erhielt eine gute Stelle bei der State Rivers und Water Supply Commission des Bundesstaates Victoria, das Wasserversorgungsamt für ländliche (nicht städtische) Gegenden. Er sagte mir, daß er gewissermaßen in seines Vaters Fußstapfen folge, der ja jahrelang eine leitende Stellung beim Altonaer Wasseramt hatte.
Nach mehreren Jahren bewarb er sich um eine höhere Stellung (Deputy Chief Engineer) bei unserem Gesundheitsamt von Victoria, und war darin auch erfolgreich. Wiederum viele Jahre später, als auch in Victoria sich Umweltsorgen geltend gemacht hatten, wurde er der erste Chief Engineer der Clean Air Commission von Victoria, ein Amt, das er bis zu seinem Tod bekleidete, und in dem ihm seiner Dienste wegen eine Medaille verliehen wurde.
Leider hatte ihn der Tod seines Bruders und seiner Mutter sowie wohl auch andere Erfahrungen psychisch so angegriffen, daß er trotz des Gutwillens mehrerer Freunde (er war sehr beliebt) im Laufe der Jahre immer einsamer wurde, daß er sich außerstande fand, weiblichen Umgang aufrecht zu erhalten, und die letzten paar Jahre in einer Fürsorge-Anstalt der Melbourne Jewish Welfare Society wohnte - von wo er aber immer noch täglich zur Arbeit ging. Schließlich litt auch seine Gesundheit ernstlich darunter.
Der vermutliche Todestag Walter Lichtheims jährt sich im nächsten Jahr zum 50. Mal. Sein Bruder Ludwig wäre in diesem Dezember 70 Jahre alt geworden.

Ulf Andersen




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