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Abgeschickt von michael am 03 Mai, 2001 um 06:12:11:

Antwort auf: oliver ness von frank am 03 Mai, 2001 um 06:09:30:

Mißhandlungsfall Oliver Neß
BGH-Freispruch für Polizeitäter
Von Rolf Gössner
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Der Hamburger Fall Oliver Neß, der Justiz und Öffentlichkeit seit gut vier Jahren beschäftigt, hat eine unglaubliche Wende erfahren: Die Polizeibeamten, die den Hamburger Fernsehjournalisten schwer mißhandelt hatten und deswegen in erster Instanz zu extrem geringen Geldstrafen verurteilt worden sind, werden in der Revisionsinstanz vom Bundesgerichtshof (BGH) praktisch reingewaschen - obwohl dieser Fall per Video so gut dokumentiert ist wie wohl noch kein Polizeiübergriff. Die beiden Haupttäter wurden kürzlich mit einer "Durchentscheidung" des BGH freigesprochen.
Zur Erinnerung: Am 30. Mai 1994 wurde Oliver Neß, bekannt für seine kritischen Fernsehdokumentationen über die Hamburger Polizei, von Polizeibeamten mißhandelt und dabei so schwer verletzt, daß er gesundheitliche Langzeitschäden davongetragen hat. Erst wurde er von hinten angefallen, mit einem lebensgefährlichen Würgegriff zu Boden gerungen, wo dann ein Polizist auf seinen Oberkörper kniete und mit dem Schlagstock wie von Sinnen auf sein Brustbein hämmerte, während sich ein anderer Beamter an seinen Beinen zu schaffen machte, einen Schuh absteifte und seinen Fuß mit beiden Händen ruckartig erst in die eine, dann in die andere Richtung riß. Resultat: Ein zerfetzter Bandapparat und eine gesprengte Gelenkkapsel. Neß mußte sich einer schwierigen Operation mit Sehnentransplantation sowie monatelangen Rehabilitationsmaßnahmen unterziehen. Fast ein Jahr lang war er wegen Arbeitsunfähigkeit krankgeschrieben.
Bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens gegen zwei der Täter ereigneten sich viele Merkwürdigkeiten. Videobänder der Polizei verschwanden, Funkmitschnitte wurden "versehentlich" gelöscht, Einsatzberichte verfälscht. Das Opfer wurde in sogenannten Zusatzberichten zum "Rädels- führer" und "Aggressor" stilisiert, um die Gewaltanwendung nachträglich zu rechtfertigen. Polizeizeugen haben sich vor ihren Zeugenaussagen abgesprochen und leiden an hochgradiger Amnesie, schweigen und mauern.
Am Ende der Ermittlungen bleiben von einem knappen Dutzend Mittätern und Gehilfen nur noch zwei übrig, die auch vor dem Landgericht Hamburg angeklagt werden: Olaf A., der das Opfer brutal mit dem Schlagstock geschlagen und auf ihm gekniet hat, sowie Oliver H., dem der prinzipiell gefährliche Fußdrehhebel zum bänderzerfet-zenden und Gelenkkapsel sprengenden Fußverdreher geraten ist. Das Urteil vom 26. Juni 1996: 3.200 DM und 4.800 DM. Übrig geblieben von der objektiv schweren Mißhandlung ist für das Gericht: bloße Nötigung sowie fahrlässige Körperverletzung. Das Gericht sah lediglich als erwiesen an, daß der eine Angeklagte den Journalisten vorsätzlich bedrohte und festhielt, und daß der andere Angeklagte den Fuß von Neß verdreht und ihm so einen doppelten Bänderriß zugefügt habe. Diese Körperverletzung sei - im Zweifel für den Angeklagten - nur fahrlässig begangen: Denn bei der Anwendung des prinzipiell zum Umdrehen eines Festgenommenen zulässigen Bein-Fuß-Hebels mittels "dosierter Schmerzzufügung" habe er sorgfaltswidrig nicht beachtet, daß sein Polizeikollege auf dem Brustkorb des Opfers kniete, so daß ein Umdrehen nicht möglich war. Das Gericht bestätigte in seinem Urteil, daß Oliver Neß keinerlei Anlaß für das Einschreiten der Polizisten gegeben habe - im Gegenteil kommt das Landgericht zu dem Schluß, einer der Angeklagten habe an dem "Nichtstörer Neß ein "Exempel statuieren wollen. Alle Verfahrensbeteiligten haben - aus unterschiedlichen Gründen - Revision gegen das Urteil eingelegt.
Von diesem Urteil bleibt in der zweiten Instanz so gut wie nichts mehr übrig. Man traut seinen Augen nicht, wenn man die "Rechtsüberlegungen" des BGH liest, die letztlich zum Freispruch führen: Der BGH unternimmt nämlich mit seiner entlastenden Argumentation den Versuch, das Opfer einer polizeilichen Mißhandlung zum "Störer" umzudefinieren: Die Täter hätten gegen Neß womöglich einen Straftaten-Verdacht ("Landfriedensbruch") gehegt oder ihn als "Störer" wahrgenommen; in einem solchen Fall hätten sie subjektiv gerechtfertigt gehandelt. Dieser Version widersprechen sämtliche Videoaufnahmen, die seinerzeit ob ihrer Bilder einer brutalen Mißhandlung in aller Welt Entsetzen hervorriefen. Mit einer solchen Argumentation lassen sich letztlich alle polizeilichen Gewalttaten rechtfertigen - nicht nur in diesem Fall. "Ich glaubte, einen Störer festzunehmen", wird so zum Schlüsselsatz für einen Freispruch "im Zweifel für die Polizei".
Der BGH behauptet zugunsten des anderen Polizeibeamten weiter, daß bei dem brutalen Verdrehen des Fußes von Oliver Neß "die Grenzen erlaubten Vorgehens" nicht pflichtwidrig überschritten worden seien - oder anders ausgedrückt: "Ihn trifft kein Vorwurf wegen der Wahl der angewendeten polizeilichen Mittel, die zur Verletzung des Nebenklägers (Neß) geführt haben". Um dies richtig beurteilen zu können, müsse der "Hektik des Tatgeschehens und der Streßsituation der Beteiligten ... ausreichend Rechnung getragen" werden - wobei, so das Gericht, "in derartigen Streßsituationen innerhalb einer größeren erregten Menschenmenge an die Wahl einer erfolgversprechenden Festnahmetechnik und die Sauberkeit ihrer Ausführung keine überhöhten Anforderungen gestellt werden" dürfen. Das grenzt schon an höchstrichterliche Kumpanei mit der Polizei, darüber hinaus an Geschmacklosigkeit, wenn angesichts einer fachärztlich objektiv festgestellten gesprengten Gelenkkapsel und einem zerfetzten Bandapparat praktisch - im Umkehrschluß - den Beamten ein noch pflichtgemäßes Vorgehen attestiert wird. An die Sorgfaltspflicht von Polizeibeamten und an den Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit werden offenbar denkbar geringe Anforderungen gestellt.
Die vom BGH beklagte Verfahrensverzögerung, die ebenfalls als (Hilfs-) Begründung für den Freispruch dient, ist von der Justiz selbst zu verantworten - in erster Linie von der Hamburger Staatsanwaltschaft. Eine Verzögerung von fast zwei Jahren kann kein Zufall sein, handelte es sich hier doch um ein ganz herausragendes Strafverfahren, das bundesweit und auch international Aufsehen erregte. Nun wird ausgerechnet diese hausgemachte Verfahrensverzögerung den Angeklagten wegen deren "starker Belastung" und "bereits erlittenen beruflichen Nachteilen" zugute gehalten.
Dieser polizeiliche Mißhandlungsfall wurde in einem von Korpsgeist und Lügen, von Manipulationen und Beweismittelunterdrückung geprägten Ermittlungs- und Strafverfahren justitiell systematisch kleingearbeitet: So mausert sich der Polizei- zum Justizskandal - und reiht sich ein in die unsägliche Tradition einer mangelhaften öffentlichen Kontrolle der Polizei, die mit tiefgreifenden, immer weiterreichenden Eingriffsbefugnissen ausgestattet ist. Dieses gravierende Problem, das zu einer notorischen Sanktionsimmunität der Polizei führt, ist bis heute ungelöst - übrigens auch eine ernste Herausforderung für eine rot-grüne Bundesregierung. In Hamburg wurde vom rot-grünen Senat – als eine Konsequenz aus den dortigen Polizeiskandalen - eine Polizei(kontroll)kommission ins Leben gerufen, die zwar ehrenamtlich arbeitet, aber mit speziellen Kontrollbefugnissen ausgestattet ist. Eine solche Polizeikontroll-Institution ersetzt zwar keine grundlegende Polizeireform, ist aber auch auf Bundesebene überfällig. Ein solches unabhängiges Kontrollorgan - Polizeibeauftragte/r oder Polizeikontrollkommission - muß mit eigenen Kontrollbefugnissen ausgestattet werden, um etwa Polizeiskandale und Polizeiübergriffe der Bundespolizeien - Bundeskriminalamt und Bundesgrenzschutz - angemessen aufarbeiten zu können. Ein alte Bürgerrechtsforderung, die erst kürzlich wieder in einem Memorandum von acht Bürgerrechtsorganisationen an die rot-grünen Koalitionäre bekräftigt worden ist, jedoch keine Erwähnung im Koalitionsvertrag fand.
Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt und Publizist, hat Oliver Neß in seiner Nebenklage und Schadensersatzangelegenheit gegen die Hamburger Polizei vertreten. Zusammen mit Neß hat er das Buch "Polizei im Zwielicht - Gerät der Apparat außer Kontrolle?" (Campus, 1996) verfaßt. Neueste Buch Publikationen: Mythos Sicherheit (Nomos, 1995); Die vergessenen Justizopfer des Kalten Kriegs (Aufbau, Berlin 1998); Erste Rechts-Hilfe (Werkstatt, 1999).




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